Produktportfolio-Transformation mitten in der Covid-Krise
VP Sales & Marketing, Röchling Automotive
Als Kind war ich ein großer Fußballfan. Die jungen Talente bei meinem Lieblingsverein haben mich mit ihrem Ehrgeiz und Fleiß begeistert. Manche von ihnen, wie zum Beispiel Oliver Kahn, sind heute Legenden. Dabei war die Basis über Jahre immer für alle gleich: die Regeln. Aber so wie sich der Fußball jetzt mit VAR und anderen Neuerungen verändert, so durchlebt die Automobilindustrie ebenfalls einen großen Wandel – auch bei den Regeln.
Bei der Mobilität ist es nämlich so, dass sich die Regeln ständig ändern. Oder zumindest noch sehr viel häufiger als auf dem Rasen. Der Weg zur Elektromobilität ist einer dieser riesigen Umbrüche. Aber ähnlich wie bei der Einführung des Videobeweises ist das kein Grund, zu lamentieren oder alles infrage zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall.
Fairerweise muss man sagen, dass die Regeländerungen in der Mobilität nicht plötzlich kommen. Normalerweise. Denn in jüngster Vergangenheit ist ja noch mehr geschehen: Die Halbleiterkrise drosselt weiter die Produktion der internationalen Automobilindustrie und die Verteuerung von Rohstoffen, Energie und Komponenten spiegeln sich in der Inflationsrate hauptsächlich in den USA, aber auch in Europa. Die Auswirkungen sind Preisverhandlungen entlang der gesamten Lieferkette.
Fit für die Zukunft
Bei Röchling Automotive sind wir froh, bereits vor der Pandemie mit unserem Restrukturierungsprogramm »Driving Future« die Weichen hinsichtlich dieser Veränderungen gestellt zu haben. Mit 41 Standorten, über 6.000 Kolleginnen und Kollegen auf vier Kontinenten eine Mammutaufgabe.
Wer einen Transformationsprozess vor sich hat, der läuft Gefahr, dabei falsche Prioritäten zu setzen. Bei Röchling Automotive hatten wir Glück. Denn unsere ersten, wichtigsten Projektmitarbeiter waren von Beginn an unsere Kundinnen und Kunden und unsere kompetenten Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Fachabteilungen weltweit. Ihnen gaben wir mehr aktive Beteiligung. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern in Form von Workshops, Townhall-Meetings, Arbeits- und Projektgruppen. Das hat gewirkt und viel mehr Ideen generiert, als wir anfangs vermutet hätten.
Dort, wo wir bislang Defizite in unseren Strukturen erkannt hatten, tat sich etwas. Aus zu zaghaft, manchmal wenig agil, mit einem Hauch von Old Economy wurde unkompliziert, innovativ und motiviert. Rasch zeichnete sich ab: Mit diesem Team haben wir die besten Voraussetzungen, um die Transformation in der Branche zu begleiten.
Bei Röchling Automotive sind wir froh, bereits vor der Pandemie mit unserem Restrukturierungsprogramm »Driving Future« die Weichen hinsichtlich dieser Veränderungen gestellt zu haben.
Digital durch die Krise
Wir würden uns selbst nicht glauben, wenn wir behaupteten, dass alle Mitarbeiter jede einzelne Neuerung gefeiert hätten und dass alle Aktivitäten bereits abgeschlossen wären.
Digitale Projekte wie die Einführung von »Office 365« kamen aber genau zum richtigen Zeitpunkt. Kaum vorstellbar, wie wir die Pandemie ohne diese Tools bewältigen würden. Unsere Teams wurden dadurch noch ein wenig flexibler. Sicherlich war das auch ein Grund dafür, dass wir (bisher) so gut durch diese Zeit gekommen sind. Dazu aber später mehr.
»All in« mit neuen Produkten
Ein weiterer Meilenstein war, diejenigen Produkte zu priorisieren, denen nach unserer Ansicht die Zukunft gehört. Inspiriert hat uns der Markt selbst. Unsere neue Vision 2030 »We drive sustainable mobility« fassen wir nicht als gut gemeinten, mittelfristigen Vorschlag auf. Dieser Satz ist das Motto unseres Produktportfolios und unbedingte Handlungsaufforderung.
Mit vielen unserer Entwicklungen sind wir daher »all in« gegangen. Strukturbauteile aus Kunststoff und aktive Air Blinds gehören dazu. Und dass wir unsere Forschung an Biopolymeren immer mehr ausbauen. Gleichzeitig haben wir einigen Produkten und Produktgruppen Lebewohl gesagt. Um Platz für neue Produkte einer neuen Mobilität hauptsächlich im Batterieumfeld zu schaffen.
Battery Solutions
Dieses Prinzip zieht sich auch durch unsere drei Produktbereiche Aerodynamics, Structural Lightweight und Propulsion. Zu dieser Dreierkette kommt – ganz aktuell im Jahr 2022 – nun Battery Solutions als vierter Bereich hinzu. Hier bündeln wir unsere Forschung und unser Know-how. Denn in E-Fahrzeugen pocht ein anderes Herz als in Verbrennern. Mit ganz eigenen Besonderheiten und Bedürfnissen.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Röchling Automotive wird nicht zum Batterieproduzenten. Uns interessiert das, was diese Energielieferanten noch besser macht. Das können Zellrahmen sein, im leichten und flammhemmenden Design. Oder Batterieabdeckungen, die durch ihre präzise Ausführung Höchstleistungen ermöglichen.
Kunststoff aus Zucker?
Für all das nutzen wir unser Material-Know-how bei Kunststoff. Auch wenn vor über 200 Jahren alles einmal mit Kohle und Stahl angefangen hat. Noch bevor das erste Fußballstadion gebaut wurde.
Hier fokussieren wir uns in Zukunft verstärkt auf Recycling-Lösungen und Biopolymere, die nach unserem Verständnis eine echte Alternative darstellen. Als Basis dient bei unserem Biopolymer beispielsweise Zuckerrohr. Eine erneuerbare Ressource, die in großen Mengen verfügbar ist. Dabei besteht kein Einfluss auf die Lebensmittelherstellung: Wir verwenden Rohstoffe, die ausschließlich für industrielle Weiterverarbeitung geeignet sind.
Was den Werkstoff so attraktiv macht: Bei der Herstellung entsteht nur ein Bruchteil der Emissionen. Bei einem Mittelklassewagen kann man durch Einsatz von Biokunststoff etwa 480 Kilogramm Kohlendioxid einsparen. Allein bei der Produktion.
Unser Röchling-BioBoom kommt mittlerweile in Europa und auch Asien an. Wir haben bereits erste Serienaufträge. Unsere Idee ist, den Großteil unserer Komponenten auch aus Biokunststoff anzubieten. Mit dem Ziel, spätestens 2035 führender Anbieter von Biokunststoffen und Recyclingmaterialien in der Automobilindustrie zu sein.
Material Application Center
Mit Kunststoff können wir nahezu jede Form realisieren. Zumindest, wenn das richtige Know-how stets verfügbar ist. Ähnlich wie bei unseren Produktbereichen führen wir in unseren beiden Material Application Centern das nötige Fachwissen zusammen. Die beiden Center für Compression Moulding (Formpressen) und Injection Moulding (Spritzguss) sind gleichermaßen Forschungseinrichtungen wie Taskforces für unsere Kunden. Alle Partner haben damit klar definierte Anlaufstellen für ihre Pionierarbeiten in Sachen Materialverarbeitung.
Der zwölfte Mann
Wir haben viel an uns gearbeitet und werden das weiterhin tun. Auch in vielen anderen Bereichen, die diesen Rahmen hier sprengen würden: an unseren Prozessen, unserer Mentalität, unserem Forscherdrang. Doch hier innezuhalten, hätte den ins Rollen gebrachten Ball gleich wieder gestoppt. Denn da ist noch eine essenzielle Dimension der Neuausrichtung: unsere Kunden.
Mit einem Großteil unserer Partner sind wir einen neuen Weg gegangen und schließen immer mehr Entwicklungspartnerschaften. Eine Sache, die wir mit sehr viel Leidenschaft verfolgen. Hierbei gilt es, noch enger zusammenzuarbeiten und damit neu zu definieren, was »Partnerschaft« bedeutet. Da heißt es, Wissen aus verschiedenen Kompetenzfeldern zu bündeln und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Das bedeutet aber auch das Zulassen einer Abkehr von der klassischen Kunden-Lieferanten-Beziehung. Und da schließen sich viele unserer Partner inzwischen sehr gerne an.
Wo geht es hin?
Um abschließend wieder den Vergleich zum Fußball zu ziehen: Wir sind noch lange nicht in der Nachspielzeit. Nach einem schwierigen Jahr 2019 konnten wir mit starken Auftragseingängen in den Jahren 2020 und 2021 die Basis für einen erfolgreichen Produktportfolio-Wechsel bei Röchling Automotive einleiten. Ein Erfolg von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit, die trotz Pandemie und Halbleiterkrise weiter hoch motiviert an unserer erfolgreichen Zukunft arbeiten. Und weil wir viel auf die Worte von Fußball-Philosoph Sepp Herberger geben (»Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!«), sind wir für die Zukunft sehr positiv gestimmt.